Reisebericht: Auswärts in Seattle
Wie ist es, einmal auswärts bei meinem Lieblingsfootballverein dabei zu sein? Im europäischen Fußball ist der Weg ins Stadion der gegnerischen Mannschaft immer eine besondere Reise; gut gelaunt und mit viel Alkohol im Gepäck geht es meistens ganz früh morgens schon los. Eine derartige Auswärtsfahrtkultur gibt es in Amerika nicht. Hauptgrund dafür sind natürlich die unglaublichen Distanzen, die zwischen den Städten liegen – gerade für Teams von der Westküste. Man fährt auch nicht an einem Tag hin und wieder zurück; man braucht mindestens eine Hotelübernachtung, Flüge, Mietwagen, das teure Eintrittsticket und vieles mehr. Das macht Auswärtsfahren nicht nur zeitlich, sondern auch kostenmäßig schier unmöglich.
Planung
Mir fiel das Spiel das erste Mal im September ins Auge. Ich liebäugelte mit der Idee, ein Work-&-Travel-Jahr in Kanada zu absolvieren, doch das würde natürlich viele Veränderungen und Organisation bedeuten. Schließlich entschied ich mich dafür und kümmerte mich um mein Arbeitsvisum, was erstaunlich schnell funktionierte, und somit konnte die Planung starten. Ein Blick auf das Wetter in Kanada im Winter machte den Entschluss einfach, an der Westküste zu starten, da es dort eben ein paar Grad wärmer ist als an der Ostküste. Vancouver war also das Ziel und im Hinterkopf meldete sich das NFL-Spiel wieder. Die letzte festterminierte Woche des Spielplans stand fest: Spätestens am 18. Dezember muss ich drüben sein. Ich kaufte mir das Ticket Mitte Oktober mit dem Gedanken, dass ein Division-Duell kurz vor Ende der Saison ein besonderes Spiel werden könnte. Dass es ein so bedeutsames Spiel werden würde, konnte ich mir nicht erträumen.
Spieltagswoche
Springen wir in die Spieltagswoche. Meine Unterkunft hatte ich mir schon im Vorfeld gebucht; es würde ein Kurztrip von Mittwoch bis Freitag werden. Für etwa 70 Euro wurden die Busse nach und von Seattle per Flixbus gebucht, weitere 30 € nahm mir das I-94-Zertifikat ab. Das benötigt man, um über den Landweg von Kanada in die USA einreisen zu dürfen. Der Preis dafür wurde ohne erkennbaren Grund im September von 6 € auf 30 € erhöht. Ebenfalls im Vorfeld schrieb ich Stu Jackson, den Writer der Rams, über Instagram an, ob er Lust auf ein Treffen hätte, und wir verabredeten uns in einer Bar in Seattle für Mittwochabend.
Mit Rams-Shirt, Rams-Pullover, London-Schal und Rams-Germany-Flagge im Gepäck ging es also am Mittwochmorgen zur Busstation in Vancouver und die Reise konnte beginnen. Immer wieder spannend ist natürlich die Grenzkontrolle nach Amerika. Tatsächlich lief sie allerdings super entspannt ab, und nach ein paar wenigen Fragen wurde die Einreise genehmigt. Wir konnten zügig weiterfahren, sodass wir insgesamt sogar eine Stunde früher als geplant in Seattle ankamen. Die Busstation dort liegt in unmittelbarer Nähe des Lumen Fields, sodass man die ersten Eindrücke und Bilder erhaschen konnte. Es ist wirklich ein beeindruckendes Stadion. Es ging zur Unterkunft und das Gepäck wurde abgestellt, ehe eine kurze Erkundungstour durch Seattle auf dem Plan stand. Nun, so spannend ist Seattle tatsächlich nicht; es ging zur Space Needle und dann am Wasser entlang Richtung Downtown zurück. Es war spürbar kälter als in Vancouver und der Regen sollte später auch noch einsetzen. Zurück im Hotel schnappte ich mir unsere Fanclub-Flagge und machte mich auf den Weg Richtung Pub am Lumen Field, wo ich meine Verabredung hatte. Leider hatte das ganze Team bekannterweise Reise-Trouble (Flug fiel aus) und so musste mir Stu ebenfalls kurz vorher absagen. Da ich eh schon in Stadionnähe war, nutzte ich allerdings die Zeit für ein Nacht-Fotoshooting und konnte sogar den Licht- und Soundcheck des Stadions beobachten.
— necout (@necout_hots) December 22, 2025
Spieltag
Die Vorfreude war natürlich riesig, als ich an diesem Morgen aufwachte. Alle Zeichen waren auf Spannung und Thriller gestellt. Es ging um den Division-Sieg, es ging um den NFC West Nr. 1 Seed, das Wetter war nasskalt und es regnete den ganzen Morgen. Um 14 Uhr sollten die Parkplätze öffnen, um 15:30 Uhr die Tore und um 17:15 Uhr war der Kick-off geplant. Ich glühte mit ein paar Bier im Hotelzimmer vor, dann machte ich mich gegen 13:00 Uhr auf den Weg Richtung Stadion in einen Pub in unmittelbarer Nähe. Beim Weg durch die Downtown konnte man die Bedeutung des Spiels beziehungsweise des Sports generell in Seattle feststellen. Ausschließlich Menschen mit Seattle-Merch waren auf der Straße unterwegs. Auch im Pub war ich der Einzige, der Rams-Merch anhatte. Ich ergatterte einen letzten Platz an der Bar und setzte mich zu drei Herren. Wir kamen ins Gespräch und unterhielten uns über die Spiele, meine NFL-Reisen, ihre Geschichten als Season-Ticket-Holder und dergleichen mehr. Es war wirklich eine angenehme Unterhaltung und auch ansonsten wurde man von niemandem angepöbelt, nur weil man gegnerischen Merch trägt. Der dritte Mann im Bunde verließ etwas früher die Kneipe. Als er weg war, fragten mich die anderen beiden, ob ich denn wüsste, wer er sei. Ich musste verneinen und erfuhr dort, dass es der Kicker der Seahawks im Super Bowl 2014 war: Jon Ryan. Die beiden verließen etwas früher als ich die Kneipe, und als ich mein Essen und die Getränke bezahlen wollte, verriet mir der Barkeeper, dass sie meine Sachen mitbezahlt hatten. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte; ich bat den Barkeeper, ihnen beim nächsten Heimspiel Dankeschön zu sagen. In diesem Moment wurde mir so richtig bewusst, dass „Football is Family“ nicht nur ein Slogan ist, sondern gelebt wird.
Es ging zum Stadion und mit Gate-Öffnung hinein. Ich war sehr überrascht, denn das Stadion füllte sich schnell, was aus früherer Erfahrung neu für mich war. Ich hielt Ausschau nach einem Rams-Merchandiser, aber im ganzen Stadion konnte ich keinen finden. Also suchte ich meinen Platz auf und schaute den Spielern beim Warmmachen zu. Nach einer gefühlt kalten Ewigkeit ging es schließlich mit dem Pregame-Programm los und – wie bei jedem Spiel – erzeugt „The Star-Spangled Banner“ (die US-Nationalhymne) bei mir immer noch Gänsehaut. Inzwischen kann ich sie so gut wie auswendig, sodass ich kräftig mitsingen konnte. Es war also angerichtet und der Kick-off wurde ausgeführt.
Das Spiel
Ab der ersten Minute war mir klar: Das hier ist etwas Besonderes. Ob es an der Wichtigkeit des Spiels lag oder generell in Seattle so eine Stimmung herrscht, kann ich nicht beantworten. Die Fans hier mussten nicht animiert werden; konsequent wurde jedes Down der Rams – nicht nur das dritte – in ohrenbetäubender Lautstärke begleitet. Das zeigte auch Wirkung, denn die Rams wirkten im ersten Viertel noch etwas verunsichert. Zum Ende des Viertels machte ich mich nochmal auf den Weg zu den Toiletten und dem Essensstand. Man hatte es schon im Gefühl, dass dies ein Spiel wird, bei dem man nichts mehr verpassen möchte. Vor dem Spiel hatte ich schon darauf geschielt, jetzt gönnte ich mir die 1-Yard-Nachos für 23 $. Das Bier für 14$ rührte ich nicht an, stattdessen gab es im Stadion für mich nur noch Wasser (5$). Das zweite Viertel begann und die Rams sowie das ganze Spiel nahmen an Fahrt auf. Den ausführlichen Spielverlauf erspare ich euch, dafür haben wir unser Review hier: (https://rams-germany.de/news/review-week-16-lar-at-sea-18-12-25)
Vor dem Spiel wurde jedem Fan ein Lichtarmband ausgeteilt, welches zur Performance für die angekündigte Laser-Halbzeitshow beitrug. Diese ist meiner Meinung nach wirklich gut gelungen, und hier habt ihr einen kleinen Eindruck davon.
Halftime Show pic.twitter.com/R9jMYjhjrE
— necout (@necout_hots) December 22, 2025
Die Halbzeit verging wie im Flug und das Spiel wurde besser und besser, vor allem aus Rams-Sicht. Nach zwei Interceptions und konstanten Punkten der Rams stand es im 4. Viertel 30:14 für die Rams. Das ist das Game, da waren sich alle sicher, und viele der Seahawks-Fans verließen das Stadion.
Das Spiel hat uns (leider) eines Besseren belehrt. Nach einem Punt-Return-Touchdown und vollendeter 2-Point-Conversion war die Hoffnung – und das Stadion – wieder zurück. Es war ein richtiger Hype-Train, das Stadion war unglaublich laut und es hörte einfach nicht auf. Auch die Rams zeigten sich davon beeindruckt und gaben den Ball direkt wieder ab. Seattle brauchte nur zwei Plays für einen erneuten Touchdown und das Stadion war nicht mehr zu halten! Zum Glück ging die Conversion daneben und der Hype war beendet. Das ganze Stadion war wieder leise, doch aus irgendeinem Grund ging der Referee an den Bildschirm. Niemand im Stadion verstand, was da vor sich ging. Plötzlich hieß es: „2 Punkte für Seattle!“, und das Stadion eskalierte erneut, auch wenn niemand wusste, was geschah. Das Spiel war ausgeglichen und es war auf den Rängen nicht mehr auszuhalten. Die nächste Eskalationsstufe wurde erreicht, als die Rams das Field Goal verschossen – meine Nerven wurden aufs Äußerste strapaziert. Hatte ich doch die meiste Zeit des Spiels im Block alleine gejubelt, umso mehr wurde ich nun von der Euphorie überrannt, die hier entstand. Nichtsdestotrotz – und das muss ich immer wieder lobend erwähnen – fühlte ich mich zu jedem Zeitpunkt im Stadion sicher und willkommen. Im Fußball, vor allem bei so einem wichtigen Spiel, wäre das leider undenkbar. Schließlich hieß es Overtime.
Overtime
Die Rams durften bekanntermaßen starten und es gab die strittige Situation über eine mögliche Interception. Mit meinem Sitznachbarn diskutierte ich inzwischen eifrig jeden Spielzug, und wir wurden uns einig, dass der Ball eine Wiedergutmachung für die 2-Point-Conversion war. Auf den Rängen sah es definitiv nach Int für die Seahawks aus; die Fernsehbilder habe ich mir ehrlich gesagt nie angeschaut. Kurze Zeit später haute Stafford das tiefe Ding auf Puka raus und ich schrie mir die Seele aus dem Leib. Mir wurde da erst richtig bewusst, wie angespannt ich inzwischen war. Alle Blicke in unmittelbarer Nähe waren auf mich gerichtet, weil das Stadion in diesem Moment selbstverständlich sehr ruhig wurde. Nun, das Spiel war aber leider nicht zu Ende und die Seahawks machten ihrerseits den Touchdown. Als klar war, dass sie sich dafür entschieden, auf Sieg oder Niederlage zu gehen (Two-Point-Attempt), war es nicht mehr auszuhalten. Dieser ganze Wahnsinn, die ganze NFC, kommt auf dieses eine Play an. Beide Seiten nutzten ein Timeout und mit jeder Sekunde wurde es unerträglicher. Nun, bekanntermaßen war sie leider erfolgreich und das Stadion ist regelrecht explodiert. Diese Niederlage war richtig unnötig und schmerzhaft, aber das konnte ich gar nicht fühlen. Ich war geplättet von dieser Euphorie und war einfach nur dankbar, dieses denkwürdige Spiel live miterleben zu dürfen. Nicht selten hörte oder las man vom „Game of the Year“. Ich gratulierte den Fans um mich herum, die mittlerweile nicht nur Bekannte, sondern schon fast Freunde geworden waren. Sie waren teilweise auch aus Vancouver, und so verabredeten wir uns für den folgenden Sonntag in einer Sportsbar.
Nach dem Spiel
Die Stimmung der Seahawks-Fans kannte natürlich keine Grenzen und der ganze lange Weg von ganz oben nach unten wurde von Gesängen begleitet. Draußen vor dem Stadion wurde getrommelt und gefeiert und die umliegenden Bars und Pubs füllten sich. Die Bedeutung des Spiels und die Erleichterung der heimischen Fans war spürbar. Da es immer noch regnete, entschied ich mich, direkt zurück zur Unterkunft zu gehen. Diese ganzen Eindrücke mussten erst einmal verarbeitet werden; außerdem war es mit der Overtime inzwischen ein langer Tag geworden. Erstaunlicherweise konnte ich gut und schnell schlafen.
— necout (@necout_hots) December 22, 2025
Abreise
Am nächsten Morgen hieß es auch schon wieder Abreise. Check-out bis 10 Uhr und zu Fuß ging es zur Busstation. Ich war zwei Stunden zu früh dort und musste mit Entsetzen feststellen, dass die Busstation geschlossen hatte. Statt also gemütlich drinnen zu sitzen und eventuell einen Kaffee zu trinken, hieß es: draußen in der Kälte warten. Dass es andere noch schlimmer erwischte, erfuhr ich, als ich ins Gespräch mit einem anderen Wartenden kam. Er hatte zwei riesengroße Koffer dabei und sein Bus nach LA sollte um 23 Uhr abends gehen. Der wurde ersatzlos gestrichen und er musste 24 Stunden auf den nächsten warten. Die Station hatte ihn um 3 Uhr nachts rausgeschmissen und geschlossen und bis jetzt (11 Uhr) noch nicht wieder geöffnet. Fahrt niemals mit Greyhound von Seattle aus! Ich erfuhr, dass er einer der Merch-Verkäufer für die NFL ist. Es war interessant zu erfahren, wie das Business so läuft. Seine beiden Koffer waren voll mit den großen Ketten, Schals und auch Jerseys. Er hat die Lizenz, sie bei der NFL günstiger zu kaufen und vor Ort zu verkaufen. Er fährt Woche für Woche mit seinen Koffern durch Amerika, um seine Sachen loszuwerden. Ein Jersey kauft er für 45 $, verkauft es für 100 $, während die NFL 150$ im Shop verlangt. Die Ketten bekommt er für 10$ und verkauft sie für 40–50 $. Westküsten-Teams sind generell kauffreudiger als jene an der Ostküste, und am besten sind Spiele, zu denen auch viele Fans auswärts fahren (49ers z. B.). Bei einem Spiel macht er ungefähr einen Gewinn von 3.000–5.000 $. Es war wirklich interessant, das alles zu erfahren und einen Einblick in das Business der Straßenverkäufer zu bekommen. Die Zeit verging dadurch wie im Flug und mein Bus wartete auf mich. Zum Abschied schenkte er mir noch eine seiner Rams-Chains und so ging ein super Ausflug – trotz Niederlage – für mich zu Ende. Die Grenzkontrolle nach Kanada war ebenfalls recht entspannt und nach vier Stunden war ich zurück in Vancouver.
Fazit
Meine Erwartungen wurden in allen Belangen übertroffen! Das Spiel hätte nicht spannender sein können, ging in die Overtime und wurde mit dem allerletzten Play entschieden. Man traf vereinzelt andere Rams-Fans, aber wir waren ganz klar in der Unterzahl – dennoch wurde man herzlich empfangen. Die Begegnung im Pub hat mir gezeigt, was „Football is Family“ wirklich bedeutet, und ich bin wirklich unglaublich dankbar und glücklich darüber. Was die Seattle Seahawks für die Stadt bedeuten, war deutlich spürbar. Das Lumen Field ist unglaublich schön, laut und beeindruckend! Ich war im SoFi, in Arizona, Las Vegas, New Orleans, Dallas und Houston in einem NFL-Stadion, aber keines kommt stimmungsmäßig auch nur annähernd an das Lumen Field heran. Das Wechselbad der Gefühle während des Spiels, die tollen Begegnungen sowie die Euphorie im Stadion werden mich diesen Ausflug nicht vergessen lassen.

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